Ein schlechter Tag
Ein schlechter Tag kündigt sich an, wenn sich mir schon beim mühsamen Öffnen meiner Augen die schwere Decke der Depression auf die Schultern legt. Mir ist übel, ich bekomme schwer Luft, und alles, an was ich denke, erscheint mir schwer und unlösbar. An guten Tagen bin ich ganz zufrieden mit meinem Leben, ich kann mich an kleinen Dingen erfreuen, und meine Grundstimmung sagt mir: "Irgendiwe kriegen wir das schon alles hin." An schlechten Tagen, so wie heute, kämpfe ich dauernd mit den Tränen, ich möchte mich am liebsten im Bett verkriechen, die Decke über den Kopf ziehen, nicht reden, nicht essen, keinen Menschen sehen. Ich kann meiner Freundin und MItbewohnerin kaum in die Augen schauen, und ich muss alle Verabredungen und Verpflchtungen, ohne Rücksicht auf Verluste, absagen und - wieder einmal - hoffen, dass meine Freundinnen und Freunde mit meinen schwachen, dunklen Anteilen genauso gut umgehen können wie mit meiner strahlenden Seite, wo ich auf Menschen zugehen kann, Anteil nehmend und einfühlsam bin, wo ich lache und gut drauf bin. Heute strengt mich selbst leises Lächeln an, Atmen und Schlucken kostet mich Kraft, und nach einer Nacht voller Albträume, in denen mich alle ablehnen und hassen, kann ich mich selbst kaum ertragen oder es gut in meiner Haut und in meinem Körper aushalten. Ich fühle mich hässlich und abstoßend, ich wäre gern unsichtbar oder würde am liebsten verschwinden.
So bin ich aufgewachsen. Da mein Vater sehr launisch, aggressiv und unberechenbar war und meine Mutter nicht fähig, ihre beiden Kinder zu sehen und zu lieben, war für Traurigkeit oder schlechte Laune von meinem Bruder und mir kein Platz. Mein Bruder hat es sich noch etwas mehr erlaubt, aber ich spürte meine ganze Kindheit und Jugend hindurch den Auftrag, für die gute Stimmung in unserer labilen Familie verantwortlich zu sein, während es alle anderen Gefühle bei mir einfach nicht geben durfte. Diese dauernde Anstrengung, zu lächeln und für gutes Wetter zu sorgen, sitzt auch heute noch, mit 44 und nach vielen, vielen Jahren Therapie unglaublich tief. Meine Freundinnen und Freunde haben schon viel mit mir erlebt: viele Absagen in mehr als letzter Minute, unzählige Ausreden und Lügengeschichten, sie kennen die Geschichte meiner Süchte, meines Zusammenbruchs, meiner Rente - und dennoch: jede neue Absage, jedes Eingeständnis: "Heute geht es mir nicht gut./ Ich habe keine Kraft. / Ich kann unsere Verabredung nicht einhalten. / Ich kann nicht telefonieren, sondern bin nur schriftlich erreichbar." kostet mich unglaubliche Kraft, Überwindung und Atemnot, weil mich mein eigenes schlechtes Gewissen: "Das darf doch nicht sein! / Nicht schon wieder! Wer soll dich schon lieb haben, wenn du SO SCHLIMM bist!" fast zu Boden drückt.
Meine Mitbewohnerin, meine engen Freundinnen und Freunde sagen und zeigen mir immer wieder, das ist ok, sie halten das aus, wenn ich schlecht drauf bin, die schönen Zeiten mit mir überwiegen, und sie mögen mich trotzdem - aber ich selbst kann mir kaum verzeihen. So wie heute. Selbstmitleid, Selbsthass und Ausweglosigkeit. Morgen kann es mir schon wieder besser gehen, aber heute siegen die Tränen der Überforderung.
Ich lebe ja seit 2005 ohne Alkohol - mit Gottes Hilfe und Gnade -, und seit 2007 ist auch meine Bulemie, dass ich das Essen buchstäblich jeden Tag auskotzen musste, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste - mehr oder weniger vorbei. Es gibt Rückschläge an schlechten Tagen, aber ich finde immer wieder in die Abstinenz und sogar dahin zurück, gerne zu essen, in normalen Mengen, und weder über Kalorien noch über meinen Bauch noch über den damals so schrecklich vertrauten Gang zur Toilette nachdenken zu müssen. Auch hierfür danke ich Gott. Wenn ich zu Suchtzeiten überfordert war, habe ich einfach getrunken oder einen Essanfall zelebriert. Auf diese ungesunde Weise habe ich mich selbst geschützt, habe mich aber auch immer verdammt, weil ich dachte: "Wenn ich diese schrecklichen Süchte nicht hätte, DANN könnte ich ganz normal und gut gelaunt für meine Freunde da sein." Heute habe ich die Süchte nicht mehr und stelle zu meiner großen Bestürzung fest: Ich bin immer noch überfordert - und zwar von ganz vielen Dingen, die für andere, so genannte normale Menschen gar kein Problem darstellen.
Bei großen Menschenmengen spüre ich den übermächtigen Drang zur sofortigen Flucht, wobei große Menschenmengen für mich schon bei einer Einkaufssituation oder auf einer Straße sein können. Verabredungen, selbst mit vertrauten Menschen, bedeuten eine große Kraftanstrengung, die ich sowohl vor dem Termin als auch lange danach spüre und nur durch langes Ausruhen und Alleinsein kompensieren kann. Frühes Aufstehen, öffentliche Verkehrsmittel, Liftfahren, langes Warten, Telefonieren, Familienfeiern, Einladungen zu Festen, Verpflichtungen, Arzttermine, Gespräche mit Nachbarn - all das kostet mich Kraft, laugt mich aus, und oftmals kann ich es gar nicht. Wie soll ein normaler Mensch, der keinen schwierigen Hintergrund, keine psychische Krankengeschichte, keine jahrelange Therapieerfahrung hinter sich hat, das verstehen? Ich verstehe es ja selbst kaum und kann es nur schlecht bei mir akzeptieren.
Wie lange habe ich nicht versucht, NORMAL zu sein. Das war mein allergrößter Wunsch: glückliche Kindheit, unauffällige Schulzeit und Studium, einen Freund, einen Partner finden, heiraten, Kinder kriegen, Haus, Beruf, Geld verdienen, Vorsorge treffen fürs Alter, das Ganze Drum und Dran. Das wird in diesem Leben für mich nichts mehr, das habe ich inzwischen gelernt. Aber Freundinnen und Freunde habe ich trotzdem gefunden, trotz meiner Schwächen, meiner Geschichte und meiner dunklen Seite, die mich immer wieder einholt und erinnert: "Du bist wie nicht wie andere. Du musst, du darfst mehr als andere auf dich aufpassen." Und: "Manches, was für andere kein Problem, vielleicht ihre Normalität darstellt, ist nichts für dich, wird nie oder nie mehr etwas für dich sein." Bitter ist das. Traurig, und an manchen Tagen viel schwerer auszuhalten als an den guten.
Ich danke euch fürs Zuhören.
Eure Miriam
miriam rosendahl am 27. April 14
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