Nicht wie die meisten Menschen
Schon als kleines Mädchen deutete sich bei mir an, dass ich anders bin als andere Kinder in meinem Alter. Ich war viel ernster, hatte wenig Freundinnen, gehörte nie einer Clique an, zog mich damals schon immer wieder zurück, stand allein auf dem Schulhof und tat so, als machte es mir nichts aus. Als hätte ich das beste Selbstbewusstsein der Welt und wollte es so. Tatsächlich habe ich, stets nach Kräften von meiner Mutter darin bestärkt, bis zu dem Tag, an dem wir in der Aula die Abiturzeugnisse überreicht bekamen und ich plötzlich jolenden Applaus bekam - was niemanden mehr überrascht hat als mich - immer geglaubt, ich sei mehr oder weniger bei allen in meiner Klasse reichlich unbeliebt und kaum wert, wirkliche Freunde zu haben. Die andere Seite war dabei vielleicht, aber das habe ich erst viel später erkannt, dass ich praktisch nie etwas von mir erzählt habe. Ich kannte das gar nicht, die wirklich vertraulichen und vertrauten Gespräche mit einer Freundin oder einem Freund, den ich sogar hatte und sehr liebte, aber selbst dem ich mich nicht anzuvertrauen wagte. Das war verboten von meinem autoritären, mal Furcht einflößenden, mal liebevollen, aber immer unberechenbaren Vater: "Über die Familie spricht man nicht!" Da ich meinem Vater, so gut ich nur konnte, immer gehorcht habe, tat ich das auch nicht. Und so wusste niemand - bis ich 22 war, Theologiestudentin in einer fremden Stadt, auf der verzweifelten Suche nach mir selbst -, wie es mir ging: dass ich, erst magersüchtig, und nunmehr seit zwei Jahren bulemisch, nicht wusste, wie mir geschah, warum um Himmels willen ich diese schrecklichen, heimlichen, nächtlichen Ess-Brech-Anfälle hatte und einfach nicht damit aufhören konnte - zu meinem Entsetzen, Unverständnis, Hilflosigkeit und unendlicher Scham. Mit 22 konnte ich zum ersten Mal nicht mehr, und nachdem ich einer neu entdeckten Freundin, meiner ersten besten Freundin überhaupt, stunden-, tage- und wochenlang zugehört hatte, wie sie von sich erzählte und mir ihre schreckliche Kindheit anvertraute, wagte ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas, was ich von nun an ganz langsam in meinem Leben lernen würde: Ich vertraute ihr mein schreckliches Geheimnis, meine tiefste Scham und meine Kindheit an.

Obwohl ich inzwischen im Lauf der Jahre zahlreichen Therapeutinnen, Ärzten und Freunden von mir und meiner Geschichte erzählt habe, fällt es mir immer noch schwer, meine allerinnersten gehütetsten Gedanken und Gefühle, heimliche Wünsche und Sehnsüchte, auszusprechen. Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt jemals so frei und natürlich, wie es zumindest viele Mädchen schon ganz früh untereinander können, einem anderen Menschen mitteilen kann. Es gibt immer noch eine innere Sperre, die mich, obwohl ich ja eigentlich ganz gut reden kann - zumindest erscheine ich nach außen hin so -, daran hindert, selbst einem langjährig vertrauten Menschen die ein oder andere Sehnsucht oder auch Angst mitzuteilen. Ich komme mit meinem Leben, sogar mit dem Zusammenleben mit einer sehr engen Freundin, ganz gut klar, das finde ich jedenfalls, und es läuft besser, als ich mir je erträumt hätte. Wir reden, lachen, schweigen miteinander und teilen sehr, sehr viel. Aber ich glaube auch, dass diese Sperre, dieses Zurückhalten meines Innersten, mich daran hindert und gehindert hat, wirkliche Beziehungen zu führen oder sie überhaupt zu wagen.

Wie viele Menschen, die sich anders als andere empfinden, habe auch ich gelernt, eine relativ gut funktionierende Fasse nach außen hin aufzubauen. Ich scheine zwei Seiten zu haben, und selbst mir fällt es immer wieder schwer, meine Gegensätze in Einklang zu bringen. Auf den ersten Blick wirke ich, glaube ich, relativ unauffällig: Ich kann ganz gut auf Leute zugehen, oberflächliche Gespräche, aber auch tiefere, persönlichere führen, ich bin freundlich, höflich, kann mich gut ausdrücken, kann gut zuhören - sprich: die Fassade wahren. Aber wenn mich jemand näher kennenlernt, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Ich bin nach solchen Gesprächen, wenn mich niemand mehr sieht, unglaublich erschöpft, ich brauche Rückzug, Erholung, Alleinsein, Schweigen. Ich habe eine so andere Geschichte und bin so tief erschöpft, dass ich nicht, wie die meisten Menschen meines Alters, mehr arbeiten gehen kann. Ich habe so viel herunterschluckt in meinem Leben, so lange versucht, den normalen Schein aufrecht zu erhalten und wie andere auch zu arbeiten, Geld zu verdienen, zu funktionieren, während mein Inneres brannte und laut(los) um Hilfe schrie, dass - für den Rest meines Lebens (?) - keine Kraft mehr dafür übrig ist. Ich habe "die Kerze an beiden Enden angezündet" und, so erscheint es mir, all meine Kraft, die für ein ganzes Leben reichen sollte, bereits mit dreißig nicht nur aufgebraucht, sondern mehr als x-mal soviel von ihr ausgegeben.

An manchen Tagen kann ich es immer noch nicht glauben, dass das wirklich ich bin, die seit ihrem 36. Lebensjahr nicht mehr arbeiten kann - und das in einer Gesellschaft, wo es bei jedem ersten Kennenlernen nichts Wichtigeres gibt als die Frage: "Was machen Sie beruflich?" Das bin ich, diejenige mit den zwei Seiten, die immer wieder aus Erschöpfung Termine verschieben, ihre Freundinnen und Freunde vertrösten, um Verständnis und Geduld bitten muss, die nicht telefonieren, sondern nur schreiben kann, der einfache Situationen mit wenigen Menschen schon zuviel sind - und die jeden Tag aufs Neue versucht, in ebendieser Gesellschaft ihren Weg zu finden, sich selbst zu verstehen und gegen alle Widerstände und Unverständnis, auch Neid und Ungläubigkeit, von Außenstehenden sich treu zu bleiben.

Meinen Eltern war es nicht möglich, ihr eigenes Leben zu verantworten, geschweige denn, zwei Kindern etwas Stabiles, Tragendes, Ermutigendes für ihre Leben zu vermitteln. Die Zeit meiner Kindheit und die zwei Jahrzehnte, in der unbelastete Menschen ihr Leben aufbauen, sich ausprobieren, Beziehungen führen, Familien gründen und eine berufliche Stabilität aufbauen, habe ich stattdessen damit verbracht, überhaupt erst herauszufinden, wer ich bin, was mich ausmacht, was ich gut kann und was mich überfordert, warum mich 20 Jahre lang diese schrecklichen Süchte quälten, und weshalb ich keinen Menschen an mich heranlassen konnte, es vielleicht bis heute nicht so kann wie andere.

Im Lauf der Jahre, der Therapien und Selbsterkenntnisse, des langsamen, schmerzvollen Zurücklassens der Süchte für ein anderes, aber selbstbestimmteres Leben, habe ich gelernt, anders hinzusehen, und ich habe einige Menschen kennengelernt, deren Lebensweg genauso verschnörkelt ist wie meiner. Menschen, die auch ein anderes Leben geführt haben als der Großteil unserer Gesellschaft, diejenigen mit den sogenannten "Lücken im Lebenslauf" - die dann gerne in diversen Weiterbildungsmaßnahmen des Jobcenters von den jeweiligen Berufscoaches fantasievoll geschlossen und umbenannt werden in "Auslandserfahrungen", "selbständige Tätigkeiten", "Fortbildungssemester" etc.

Leider habe ich in der letzten Zeit festgestellt - meine Freundinnen und Freunde mit den verschnörkelten Lebenswegen sind ungefähr so alt wie ich oder wenige Jahre älter -, dass uns alle, mehr oder weniger, unsere Kindheit und unsere Vergangenheit, in der wir suchten und darum kämpften, "normal" zu leben und zu funktionieren, eingeholt hat. Jede einzelne meiner Freundinnen, die aus einem schwierigen Elternhaus kam und sich für einige Jahre durchaus ein respektables, unauffälliges Berufs- und Alltagsleben aufgebaut hatte, steht mittlerweile wieder an dem Punkt, nicht wie andere zu sein.

Ich bin zwar die Jüngste und mit meiner krassen Suchtvergangenheit vielleicht die Auffälligste von uns, aber meine Freundinnen stehen nach zähem Durchhalten und Funktionieren vor ebensolchen Fragen und Ängsten wie ich vor einigen Jahren:
Was geschieht mit mir und meinem Körper/meiner Seele? Was bedeutet das für mein weiteres Berufs- und Erwerbsleben? Welchen Beruf und in welchem Umfang kann ich noch ausüben, und: Welcher Arbeitgeber nimmt mich überhaupt noch?? Wovon soll, wovon kann ich leben? Welche Einschränkungen kommen auf mich zu? Wie lange kann und muss ich das finanziell durchhalten? Und, ganz schlimm in unserer Gesellschaft: Was bedeutet das für mein Alter, wenn ich keinerlei Rücklagen oder Absicherung habe?

Ich möchte dennoch mit einem kleinen Vorteil schließen, den meine Freundinnen, Freunde und ich vielleicht haben im Unterschied zu denen, deren Lebensweg eher gerade verlief. Durch unsere Geschichten, unsere ungewöhnlichen Lebensläufe, durch psychosomatische Erkrankungen, Therapien etc. ist uns vielleicht auch etwas geschenkt, was andere Menschen erst später in ihrem Leben, manche vielleicht auch gar nicht, durchmachen: sich immer wieder die Frage nach dem Sinn zu stellen, nach dem, was uns wirklich wichtig ist, ob wir tatsächlich so leben, wie es uns gut tut und unseren Überzeugungen entspricht, was wir ändern müssen oder wollen, und nicht zuletzt; was uns Verzicht auch schenken kann an Einsichten und Zeit für die kleinen, schönen, kostbaren und immateriellen Dinge des Lebens.

Danke für euer Zuhören.

Eure Miriam