Durch Krankheit und Armut habe ich gelernt, achtsamer zu werden
Seit ich geboren wurde, konnte in meinem Elternhaus von einer Sekunde auf die andere die Stimmung umschlagen und damit die Gefahr entstehen, geschlagen oder psychisch misshandelt zu werden. Dadurch habe ich schon früh gelernt und verinnerlicht, genauestens auf meine Mitmenschen und meine Umgebung zu achten. Das war überlebenswichtig für mich und meinen Bruder, der aus welchen Gründen auch immer von unserem Vater nie geliebt oder angenommen wurde. In guten Momenten war ich der Liebling meines Vaters, und diese wechselhafte Liebe hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet - wenn auch eines mit über zwanzig Jahren Sucht und Scham. Mein Bruder sah mit 26 keinen Sinn mehr und nahm sich das Leben.
So merkwürdig es vielleicht klingen mag, hat ja eine Sucht immer auch einen Sinn, einen Grund im Leben eines Menschen. Eine Sucht ist natürlich nicht gerade die beste und vor allem nicht die gesündeste Form, sich das zu holen, was man eigentlich braucht oder sucht, aber eine starke Abhängigkeit kann einen Menschen auch schützen - so lange, bis es ihm oder ihr eines Tages - nach viel Verständnis, Lernen und Therapie - vielleicht möglich ist, andere, gesündere und lebensbejahendere Wege einzuschlagen, um sich das zu nehmen, was einem gut tut.
Ich habe erst sehr spät gelernt, dass es mich sehr viel Kraft kostet, mit anderen Menschen zusammenzusein. Durch die Prägung in meinem Elternhaus ist es Teil meines Wesens geworden, bei anderen Menschen, in jeder Situation, zu beobachten, wie es dem anderen gerade geht. Oft erkenne ich durch genaues Beobachten von Körpersprache, Mimik, Stimmlage, manchmal sogar schneller als mein Gegenüber selbst, wenn etwas nicht stimmt, und ich versuche, durch vorsichtiges Nachfragen und behutsames Zuhören, dem anderen zu helfen oder wenigstens mein Verständnis und bedingungsloses Akzeptieren anzubieten. Ich mache das gerne, fast automatisch, und ich liebe auch diese Eigenschaft an mir. Und dennoch: Jede Begegnung kostet mich unheimlich viel Kraft, und ich muss immer aufpassen, mir nicht zuviel zuzumuten.
Ich habe das Geschenk von wunderbaren Freundinnen und Freunden erhalten, die mich genauso annehmen, wie ich bin. Sie haben mir meine vielen Lügengeschichten und Absagen in letzter Sekunde vergeben und nehmen es großartig hin, dass ich sie nur alle paar Jahre besuchen kann. In manchen Jahren kann ich bis zu drei, vier Freunde treffen, aber es gibt auch Zeiten, da ist mir nur ein einziger Besuch möglich.
In der psychosomatischen Klinik, in der ich 2007 einige Monate wegen meiner Essstörung behandelt wurde, bekamen wir die Aufgabe gestellt, uns für Notfälle, wenn der Suchtdruck sehr groß ist, einen Überlebenskoffer zu gestalten. Suchtdruck bedeutet in meinem Fall, dass der Drang, zu erbrechen oder Alkohol zu trinken, fast übermenschlich ist und einem alles an Kraft abfordert, dem nicht nachzugeben. In meinem Überlebenskoffer sind lauter kleine Symbole, die mich in schlimmen Augenblicken daran erinnern sollen, ganz besonders auf mich zu achten - achtsam zu sein - und statt des Suchtmittels lieber die vielen schönen Dinge wahrzunehmen, die mich ausmachen und die mir Freude bereiten. So sind in dem Koffer zum Beispiel mein Parfüm, ein Spaziergang in der Natur, ein gutes Buch, ein Museumsbesuch, meine Lieblingsfilme oder die Musik der von mir verehrten Liedermacher und Chansonsängerinnen.
Achtsam sein bedeutet für mich, alles langsamer zu tun, mit allen Sinnen genau auf meine Umgebung zu achten, auf die Signale meines Körpers und meiner Seele zu hören und zu erkennen, dass das, was ich gerade denke oder so dringend tun zu müssen glaube - in Wirklichkeit gar nicht unaufschiebbar und oftmals überhaupt nicht notwendig ist. Achtsam bedeutet auch, mich auf den Augenblick zu konzentrieren, auf den nächsten Schritt, und mich nicht verrückt zu machen mit fünf Fragen auf einmal oder den Erwartungen, die andere Menschen an mich haben könnten - oder ich an mich selbst, und mit deren pflichteifriger Erfüllung ich mich komplett übernehme und meiner Kraft beraube.
Mein Leben ohne Sucht, mein fester Wunsch, wenigstens in Zukunft so pfleglich wie möglich mit meiner Gesundheit umzugehen, haben mich praktisch dazu gezwungen, mehr auf mich zu achten und anzuerkennen - ob es mir nun passt oder auch nicht -, dass mir viele Dinge, die ich von mir geglaubt oder erwartet habe, in meinem Leben nicht mehr möglich sind. Wahrscheinlich waren mir Kräfte zehrende Begegnungen mit anderen Menschen, doppeldeutige Erwartungen und Botschaften, unausgesprochene Vorwürfe und anderes, was weniger Vorbelasteten vielleicht gar nicht auffällt, schon immer zuviel, nur habe ich durch den Rückzug mithilfe meiner Süchte dies jahrzehntelang unterdrückt und meinen tatsächlich verletztlichen Zustand gnadenlos überspielt. Dies kann ich heute nicht mehr, jedenfalls nicht, wenn ich keinen Rückfall und eine Rückkehr in ein so trauriges, nur von Sucht diktiertes Leben riskieren möchte.
Aber auch durch die Armut, die sich seit meiner Rente 2006 immer mehr in mein Leben eingeschlichen hat, bin ich auf meine Umgebung und meine Mitmenschen aufmerksamer geworden, und ich bemerke Dinge, die mir früher, zu Zeiten sorglosen Shoppens und Arbeiten bis zum Umfallen, nicht aufgefallen sind. So sehe ich zum Beispiel mitten im Winter Familien mit zwei oder drei kleinen Kindern, in billiger oder unmoderner Kleidung, die ohne Handschuhe, mit viel zu leichten Jacken und Schuhen, frierend, mit hochgezogenen Schultern und Sorgenfalten in den Gesichtern der Eltern, an der Bushaltestelle stehen, während um sie herum Menschen im Weihnachtsrausch mit übervollen Plastiktüten zu ihren geschützt geparkten Autos eilen. Ich gehe an Flohmarktständen vorbei und sehe die immerselben Gesichter, die Woche für Woche ihren wenigen, fast kaum noch etwas einbringenden Hausrat und Tand verkaufen - 10 Cent das Stück steht auf einem Pappschild und zeigt den vorbeieilenden Schnäppchenjägern, dass hier für Sie nicht das Mindeste zu holen ist.
Ich erkenne selbst im Discounter eine Zweiklassengesellschaft: Da sind die gut angezogenen, finanziell und beruflich Abgesicherten, immer in Eile, die in ihre vollen Einkaufswagen neben den Wochenangeboten auf dem Weg zu Kasse fast wahllos Dinge packen, die sie ohnehin noch zu Hause haben und die dann in ihren Vorratsschränken vergessen werden. Daneben sehe ich immer öfter die Menschen wie ich, die nur wenige alltägliche Gebrauchs- und Lebensmittel vor sich herschieben, die vor dem ein oder anderen Regal länger stehenbleiben und offensichtlich überlegen, ob sie den Artikel wirklich brauchen oder ob sie seinen Kauf noch um eine weitere Woche verschieben können. Spontankäufe kommen bei Armen nur sehr selten vor - das rächt sich nur allzu schnell am Ende oder auch schon in der Mitte des laufenden Monats.
Ich sehe die ausgezehrten und aufgedunsenen Gesichter der Obdachlosen in der Fußgängerzone, die sich in der Unterführung herumdrücken und die mich daran erinnern, dass damals nur noch eine Haaresbreite gefehlt hätte, und ich stünde heute mit ihnen zusammen, tränke und sinnierte über den Lauf der Welt - von den meisten verachtet, missverstanden und auf keinen Fall in ihre Gesichter sehend. Ich lerne die anderen Seiten einer Stadt kennen, die Sozialkaufhäuser, den Schmutz, die abblätternden Behausungen, viel Streit und Gleichgültigkeit. Dafür hatte ich als Berufstätige mit gutem Gehalt, mit Überstunden und Speedshopping für Hunderte von Euro gar keine Zeit - und keine Augen, die hingesehen haben.
Ich glaube, ich möchte noch viel mehr hinsehen und lernen. Achtsam sein ist nicht nur gut für mich, sondern auch für die Menschen und die Natur um mich herum. Ich versuche, nicht mehr so gedankenlos zu sein, alles so selbstverständlich und übersättigt hinzunehmen. Es gibt so viel Schönes zu erleben, was gar kein Geld kostet. Und es gibt so viel Trauriges und Menschliches zu sehen, was manchmal ganz leicht mit einer kleinen Geste zu lindern ist.
Ich wünsche euch einen wunderbaren Frühling. Ich genieße jede Blüte, die als neue Farbe im Alltagsgemälde auftaucht und mir zeigt: Schau her, nimm dir Zeit, sei achtsam. Lächle einem anderen zu, wenn du kannst, oder zeig ihm mit einem Blick, einer helfenden Hand, das du ihn oder sie wahrgenommen hast in unserer Zeit des Wegschauens.
Ich danke euch für euer Zuhören.
Eure Miriam
miriam rosendahl am 27. April 14
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