Freundinnen und Freunde
Auf meinem Weg, meinen vielen verschiedenen Stationen habe ich sehr viele Menschen kennengelernt - und fast ebenso viele wieder aus den Augen verloren oder bewusst vorbeiziehen lassen. Ich habe an vielen verschiedenen Orten gelebt und bin durch meine wechselvolle Geschichte Menschen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Lebensgeschichten begegnet. Da waren die vielen Bekanntschaften im Studium, aus Kirche und Arbeitsfeldern, die in dem Moment wichtig wirkten - und es doch nicht waren. Es folgten immer wieder neue Menschen an neuen Orten, neuen Berufen - mit scheinbar intensiven Gespräche, die doch so wenig über mich selbst aussagten und einen wesentlichen Teil meiner Selbst verbargen. Da ich so viele Jahre meine Kindheit, meine Gefühle, mein schreckliches Leiden unter meinen heimlichen Süchten verschwiegen habe, lebte ich immer in der Angst: "Die wissen gar nicht, wer ich wirklich bin." "Wenn Sie das Schlimmste wüssten, würden sich alle, alle von mir abwenden." Ich kannte und konnte das nicht: Ehrlichkeit, Vertrauen, Loslassen, über Gefühle sprechen, keine Angst zu haben vor der millionsten Enttäuschung und davor, aufs Neue niedergemacht zu werden - sondern glauben zu können: "Dieser Mensch ist anders, als ich es bisher erlebt habe." "Diese Person wird mir nicht weh tun."

Ich wusste ja nicht einmal selbst, wer ich überhaupt bin, was ich möchte - und was nicht, wer mir gut tut - und wer nicht (und wenn diese Person hundertmal zu meiner engsten Familie gehört und ich ihr oder ihm doch eigentlich mein Leben lang dankbar und verbunden sein sollte). Ich hatte buchstäblich keine Ahnung, was in mir steckt, was mich ausmacht oder antreibt, was gut an mir ist und was vielleicht eher schwierig für andere Menschen im Umgang mit mir - all das fand ich erst durch jahrzehntelange Therapie heraus. Ich lernte ganz, ganz langsam, über mich zu reden, über meine Geschichte, meine Wünsche, meine Ziele - und erkannte ebenso vorsichtig und unendlich erstaunt, dass es tatsächlich Menschen gibt, die alles oder viel von mir wissen und mich trotzdem mögen. Genau so, wie ich bin. Mit allen meinen Stärken und Schwächen, mit meinen Schrullen und Eigenheiten, mit den Dingen, die liebenswert an mir sind - denn die gibt es, wie ich in all den Jahren des Loslassens meiner Süchte gelernt habe - ebenso wie die Züge, die vielleicht schwieriger zu verstehen sind, aber nichtsdestotrotz von ihnen akzeptiert werden: meinen Freundinnen und Freunden.

Die Menschen, die mich inzwischen seit vielen Jahren begleiten, die vieles von mir wissen, halten dennoch zu mir - was mich auch heute noch, nach vielen Jahren des gemeinsamen Weges, erstaunt, überrascht und mir immer wieder aufs Neue Tränen in die Augen schießen lässt, mir ein Gefühl von Unfassbarkeit und reich beschenkt sein vermittelt: wenn ich mich ihnen ehrlich zugemutet habe, zum Beispiel mit einer wieder mal kurzfristigen Absage eines Treffens, einem monatelangen Abtauchen, um mich dann schriftlich, nicht etwa telefonisch oder gar persönlich, wieder zu melden.

Ihnen verdanke ich einen großen Teil meiner Lebensqualität und Freude. Ihnen, euch, meinen lieben Freundinnen und Freunde, verdanke ich Dinge, die ich das Glück hatte, durch euch und mit euch - später als andere Menschen, aber immerhin - lernen zu dürfen: Vertrauen, Ehrlichkeit, Dankbarkeit, Tragfähigkeit einer Beziehung, ohne etwas leisten zu müssen, ohne zu verschweigen, zu unterdrücken, hintanzustellen, um nur ja dem anderen zu gefallen und es doch nie recht machen zu können - so, wie es mir. wie auch so manchen anderen, leider meine Eltern beigebracht haben. Sie konnten und können es bis heute nicht besser, aber das ändert nichts an den Verletzungen, die geschehen sind. Meine Freundinnen und Freunde, meine Gefährtin, sind meine Famlie geworden.

Sich selbst zu kennen, zu schätzen, möglichst gutmütig gern zu haben ist wohl der Anfang, bevor Menschen wie ich, mit schlimmen Geschichten und tausendfach schlechten Erfahrungen, lernen und eines Tages sogar glauben können, dass auch andere Menschen sie lieben können - und dies auch tun. Dass die schlimmsten Dinge, die man selbst über sich dachte, nicht verhindern, dass der eine oder andere Mensch einen trotzdem mag - und die so lange versteckten schlimmen Dinge wie Sucht, wie Missbrauch, wie nicht zu Liebe fähige Elternteile kein Grund sind, einen zu verurteilen, zu verdammen - oder zu verlassen.

Ich habe das unendliche Glück solcher Freundinnen und Freunde und danke dem Leben, das ich das erfahren darf. Ich bin bestimmt manchmal unbequem, vielleicht können sie mein ein oder anderes Verhalten nicht ganz nachvollziehen (vielleicht aber doch), aber: sie sind immer noch da. Sie haben mich nicht aufgegeben in den Jahren des Abtauchens, des Verleugnens, der Lügengeschichten und Geheimnisse. Sie haben es akzeptiert, sie riefen immer wieder an, gaben mir das Gefühl, irgendwie seltsamerweise doch liebenswert zu sein. Wenn ich schon drei Treffen abgesagt hatte, warteten sie mehrere Monate und fragten erneut, ohne mich zu drängen oder zu verurteilen, wenn ich wieder keine Kraft hatte. Meine Geheimnisse, die Essstörung und die schwere Alkoholabhängigkeit, die ich irgendwann wie einen Paukenschlag verkündete - auch das schreckte sie nicht ab. Es war kein Drama, wie so lange von mir gefürchtet, sondern ein Teil von mir - die sie als ganze Person immer noch mochten. Unfassbar.

Sie haben nicht nur meine Süchte akzeptiert, sondern - wieder im Gegensatz zu meiner leiblichen Verwandtschaft - auch meine Berufsunfähigkeitsrente, seit ich 36 bin. Letzteres wiegt vielleicht fast noch mehr in einer Gesellschaft, in der die Politiker im Wahlkampf nicht oft genug betonen können: "Leistung muss sich wieder lohnen!" und "Nur wer arbeitet, soll belohnt werden!". Keiner meiner Freundinnen und Freunde, außer meiner Gefährtin mit ähnlich belastender Lebensgeschichte, ist bisjetzt diesen Weg gegangen. Alle, auch wenn sie zum Teil selbst zu kämpfen haben mit großer Sensibilität und gesundheitlichen Alarmsignalen, haben immer wieder versucht, beruflich zu funktionieren, möglichst nicht aufzufallen in unserer Leistungsgesellschaft, trotz Strauchelns immer wieder Fuß zu fassen in unserem Arbeitsleben und wie gewünscht vorzusorgen für das Alter und die abgesicherte, strahlende Zukunft.

Ich bewundere sie dafür, für ihre Kraftanstrengungen - wo meine Kraft für immer verbraucht ist durch jahrzehntelangen körperlichen Missbrauch und mein Leben auf der Beschleunigungsspur. Ich wünsche ihnen und jedem Menschen, was ich - trotz finanzieller Einbußen und ungewisser Zukunft - leben darf: Zufriedenheit und (einigermaßen, ich will meine Gelassenheit nicht übertreiben) Ausgesöhntsein mit dem eigenen Leben. Ich wünsche jedem und jeder Einzelnen, dass Raum bleibt, einen Teil seiner geheimen Wünsche, Ziele, Ideen zu leben, und nicht im gesellschaftlich scheinbar normalen Arbeitsalltag einfach aufzugeben.

Auch wenn sich nicht jeder und jede trauen mag, eine winzige Rente zu beziehen und in vielleicht ungesicherter Zukunft zuleben, bin ich doch fest überzeugt und hoffe es für jeden und jede, die sich abrackern im Beruf, dass es möglich ist, an kleinen Wünschen, Zielen, Träumen festzuhalten. Ich bin ganz sicher und mache die Erfahrung immer wieder: Es ist viel mehr möglich, als man denkt. Und: Es läuft so viel besser, als man sein Leben lang gefürchtet hat. Und ganz anders, als man denkt oder bis ins Kleinste versucht zu planen und mitzubestimmen, kommt die Zukunft sowieso.

Ihr Lieben, ich danke euch fürs geduldige Zuhören. Ich wünsche euch ebensolche Freundinnen und Freunde, wie sie mir geschenkt wurden: Menschen, die euch genau so nehmen und mögen, wie ihr seid. Ohne wenn und aber.

Habt ein gutes Leben und den Mut, eure Träume - wenigstens ein bisschen - umzusetzen: hier und jetzt, und nicht erst in der Zukunft, die ihr nicht in der Hand habt.

Danke.

Eure Miriam