Wie die Erwerbsunfähigkeitsrente mein Leben verändert hat
Ihr lieben, geduldigen Leserinnen und Leser!
Bitte verzeiht, dass ich so lange nicht mehr in meinem Blog geschrieben habe. Ich hoffe, es geht euch gut, und ihr findet immer wieder das, was euch im Moment gut tut und weiterhilft.
Ihr wisst ja von mir vielleicht, dass ich 44 Jahre alt bin und schon seit mehreren Jahren eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehe. Sie ist furchtbar klein, weil ich in meinem Leben viel studiert und gearbeitet, aber nicht allzu lange in die Rentenversicherung eingezahlt habe. Durch 20 Jahre Bulemie und Alkoholsucht bin ich etxrem ausgebrannt gewesen, und meine Kraft ist nicht mehr die, die sie in jungen Jahren war. Da habe ich wie auf Speed gelebt, und das geht jetzt nicht mehr.
Ich habe einer Freundin, die selbst ziemlich im Arbeitsleben zu kämpfen hat und mit einer sehr schlimmen Krankheit umgehen muss, aufgeschrieben, wie diese Rente, die ich mir ja nicht in erster Linie ausgesucht habe, sondern die eben so auf mich zukam, mein Leben entscheidend verändert hat. Im Folgenden will ich euch einmmal diese Dinge zeigen, was so eine Mini-Rente mit einem Leben macht - raus aus der Sucht, aber rein in die Armut. Raus aus dem Konsum - aber rein in ein Leben voller Lebensqualität und Achtsamkeit. Seht selbst.
Ich erinnere mich noch heute intensiv an die damalige Therapiestunde, die meinen weiteren Weg total verändert und bestimmt hat. Ich war genauso hin und her springen, zerrissen von Bildern, Selbstzweifeln, Fragen, Ängsten, Ungewissheiten (ich hatte damals noch zusätzlich die Wohnungsangst - mit einem Job, der bald auslaufen würde und dem daranhängenden Appartement), Geldsorgen. Aber nach vielen Wochen, Monaten, eigentlich schon Jahren mit diesen Gefühlen hat mir diese eine Stunde auf einmal alles ganz klar gemacht: Welchen Weg ich gehen muss. Alles Weitere würde sich finden. Und es hat sich gefunden. Mein Leben hat sich seitdem um 80% verbessert, auch wenn ich kein anderer Mensch geworden bin und manche Probleme/Verhaltensweisen/Prägungen bleiben - aber ich möchte und ich kann auch nicht mehr zurück.
Vielleicht helfen meine Überlegungen dem einen oder der anderen bei eurem eigenen Weg. Kennt ihr von Klaus Hoffmann das Lied MEIN WEG IST MEIN IST MEIN WEG? Das habe ich neulich wieder gehört und habe es gleich erstmal auf Endlosschleife im Auto laufen lassen und habe lauthals und aus vollem Herzen auf der Autobahn mitgesungen. Auch Reinhard Mey ist so ein musikalischer Kraftgeber/Außenseiter/Vorbild/Gleichgesinnter, auch wenn sie vielleicht nicht die gleichen finanziellen Sorgen haben.
Hier also meine Liste:
Nein, ich habe kein Geld mehr. Keine Ersparnisse, keine Lebensversicherung, keinen Bausparvertrag, keine liebevolle reiche Erbtante, keinen reichen Partner, der mich absichert, keine Lottomillion (ich bin die typische Verliererin, ich habe noch nie irgendwo was gewonnen, ich spiele auch nicht), keine höhere Rente in Aussicht, keinerlei Altersabsicherung. (Stimmt nicht ganz, fällt mir gerade ein: Ich habe noch die Anteile aus der Firma meines Vaters, die mich monatlich unterstützen und von denen ich mit mein Leben finanziere. Wie lange die Firma weitergeht, weiß natürlich niemand.) Ich bin bei meinen Freundinnen und Freunden verschuldet, und es wird alles andere als lustig, die Darlehen, über die ich so dankbar bin, in den kommenden Jahren in winzigen Raten zurückzuzahlen.
Nein, ich kann mir viele Dinge, die früher selbstverständlich waren, nicht mehr leisten. Viele materiellen Wünsche kann ich mir nicht mehr erfüllen. Dazu gehören: Reisen, Essen gehen, Klamotten kaufen, neue Bücher, meine geliebten Filme, Töpfersachen, eine größere Wohnung, in der nicht alles klein und eng ist, ein größerer Garten, den wir mit immer neuen Pflanzen bestücken können, Dekoartikel zum Schmuck von Wohnung und Garten, ein neues gutes Fahrrad, so viel Kino, wie ich möchte, Café, SonntagsbrötchenAusstellungen, Konzerte, Theater, Sauna, Schwimmbad, so viele Flohmarkt- und Schnickschnacksachen, wie ich grade sehe oder haben will - mehr fällt mir im Moment nicht ein. Das heißt nicht, dass diese Dinge NIE möglich sind, aber sehr selten, und es wird immer noch seltener.
Nein, es ist kein angenehmes Gefühl (auch wenn es leichter wird) auszuhalten, dass man JEDEN TAG FREI hat und die Nachbarn, Verkäufer, Menschen auf der Straße tuscheln (könnten) oder auch direkt fragen: Was machen Sie denn eigentlich beruflich?!
Nein, es ist nicht schön sich einzugestehen, dass man nicht WIE NORMALE MENSCHEN sein Leben lang in die Arbeit gehen wird. Dass man beeinträchtigt, schwächer, NICHT BELASTBAR ist - und dass man dass einem noch nicht mal ansieht.
Nein, ich werde vermutlich keine normale Arbeitsstelle mehr bekommen. Niemand wird mich mehr einstellen, niemand wird MICH MEHR HABEN WOLLEN.
Nein, ich fühle mich oft nicht als normales Mitglied unserer Gesellschaft. Ich fühle mich als Außenseiterin und empfinde oft genug die beliebten Äußerungen bestimmter Politiker oder Propagandisten als direkten Angriff, wenn diese abfällig von den Menschen reden, die "dem Staat auf der Tasche liegen", die "missbräuchlich von Sozialhilfe leben" etc. Ich nehme nicht an Shopping-Events, kulturellen Veranstaltungen etc. teil und fühle mich manchmal wie ein Fremdkörper in unserer Gesellschaft, wie eine Zumutung, eine Belastung, eine Drückebergerin, eine Schmarotzerin.
Nein, ich fühle mich nicht normal, sondern unglaublich naiv, was meine fehlende Alters- und Pflegeabsicherung oder andere Versicherungen angeht, bei der ich einfach das Beste hoffe und auf Gott vertraue, so gut es mir möglich ist.
Nein, ich bin nicht frei von Ängsten, dauernden Geldsorgen (was mich unglaublich nervt und mir auch peinlich ist).
Nein, ich bin nicht frei von den Gedanken: Eigentlich könntest du doch... wenn du dich nur mehr anstrengen würdest... und von Selbstverurteilungsmomenten. (Warum bin ich nicht...? Hätte ich doch damals nicht...)
Eine Menge Zeugs. Und trotzdem überwiegt für mich nach acht langen Jahren das Positive, der Gewinn an Leben, Qualität, Wahrhaftigkeit:
Meine Lebensqualität hat sich, trotz des dauernden Geldthemas, absolut zum Besseren gewendet. Ich habe viel mehr Zeit, Dinge anzugehen - oder auch die Freiheit, Dinge nicht zu tun. Das Wort "müssen" streiche ich immer mehr aus meinem Denken und aus meinem Wortschatz und ersetze es durch anderes.
Ich habe eine ungeheure Freiheit gewonnen und die Möglichkeit, meine Überzeugungen zu leben, meine Träume - man glaubt es kaum. Selbst das Häuschen ist uns gelungen, sei es noch so klein und beengt, obwohl wir das mit unseren Mitteln niemals für möglich gehalten hätten. Auch unsere geliebten Katzen, unsere Süßen, fast unser Ein und Alles, können wir uns leisten, und günstige, aber regionale und BIO-Lebensmittel (größtenteils) sogar auch.
Wir haben die Chance und versuche es auch jeden Tag, unser Leben, unsere Zeit, unser Denken möglichst achtsam, vorsichtig, bedächtig mit uns, unserem Körper, unserer Seelle, nach unseren Möglichkeiten zu leben. Das ist ein Luxus, den wohl nur wenige Menschen haben oder es wagen, sich zu leisten. Das ist wirklich ein unglaublicher Lebensgewinn.
Ich genieße und schätze kleine Dinge wesentlich mehr, als ich es - besonders zu Suchtzeiten, aber nicht nur - jemals konnte. Ich erlebe die Jahreszeiten, das Erwachen der Natur, jede einzelne kleine Blüte viel intensiver als jemals zu Arbeitszeiten.
Ich habe meine Nische gefunden und bin über fast alles in meinem Leben glücklich, zufrieden oder wenigstens - mal mehr, mal weniger - ausgesöhnt. (Naja, ich versuche es zumindest. Ich wollte schon als Kind gern Heilige werden, bin es aber ganz und gar nicht. Belasten tut mich vor allem immer wieder der fehlende Umgang mit meiner Mutter, das kriege ich einfach nicht besser hin. Oder auch ein paar Kinderdorfgeschichten oder Nachbarschaftserlebnisse treiben nach wie vor ihr Unwesen.)
Ich habe die Arbeit gefunden, die mir Spaß macht, sie hilft mir finanziell, ich fühle mich wertgeschätzt - und: ich kann in dem Tempo und in der Menge arbeiten, wie es mir gut tut und wie es meine Kräfte zulassen. In den ersten Jahren ging praktisch kaum etwas, und jetzt kommt, genau nach meinen Kräften, kontinuierlich mehr herein.
Ich habe für mich schon seit einigen Jahren die Engelkarten entdeckt, auch wenn ich bestimmt keine Dogmatikerin bin. Aber ich habe wirklich das Gefühl, die Sicherheit, dass je mehr ich vertraue, desto mehr für uns gesorgt ist - wir sind schon so weit gekommen und können uns doch immer wieder auch kleine Wünsche erfüllen, was von außen betrachtet wie ein Wunder wirkt. Wir erfahren so viele gute Dinge - die schlechten auch, aber manchemal führen sie tatsächlich zum Guten hin, so sehe ich es jedenfalls in guten Momenten oder auch im Rückblick, wenn das Schlimme vorbei ist.
Wir haben Verzicht gelernt, sind immer mehr reduziert auf das Wesentliche - auch wenn natürlich Wünsche bleiben. Aber ich habe zu Geld-Zeiten soviel Unnützes, Sinnloses, Kurzlebiges gekauft, verschleudert - das passiert mir nicht mehr so oft. Wir überlegen einfach sehr gut, was wir uns leisten, und wo wir Verzicht üben.
Wir müssen niemandem mehr etwas beweisen, wir müssen nicht mehr leisten, nicht mehr andauernd über unsere Kräfte gehen, unseren Sinn nur noch von der einen Arbeitswoche zur nächsten schleppen. Keine Rechenschaft mehr - es ist, wie es ist, mit unserer Kraft und unserem Lebensentwurf.
Wir gestalten unsere Tage nach unserem Gutdünken, nach unserer Kraft, Freiheit, Freude.
Wir lachen so viel mehr den Tag über als jemals zu Arbeits- und Bewerbungszeiten. Die Bitterkeit und Sinnlosigkeit schwindet.
Wir leben sehr viel im Augenblick und versuchen, weniger die Ängste, als all das Schöne zu sehen, was wir haben. Und es gibt vieles Schönes.
Ich habe den Wert von Freundschaften, von Menschen, denen wirklich an mir liegt, die mich so nehmen, wie ich bin, die mich unterstützen (und das nicht nur materiell) und bestärken, noch einmal ganz neu und intensiv kennengelernt.
Wir leben so, wie es uns gut tut, nicht mehr wie wir leben sollen.
Auch hier eine Menge Zeugs. Vieles erkennt man erst hinterher, wenn man schon eine ganze Weile draußen ist, wieviel entschleunigter und einfacher ein Leben auf einmal ist.
Ich drücke euch bei euren Entscheidungen die Daumen, meine Gedanken begleiten euch, dass es bald ruhiger wird in eurem Leben, und ihr wieder auf eure Kraft, eure Gesundheit, eure Freude schauen könnt. Das werdet ihr! Für jede und jeden von euch gibt es Hilfe und Türen, die sich öffnen, wenn sich andere verschließen. Auch wenn ihr große Angst vor der Zukunft habt - es wird für euch gesorgt werden, und ihr werdet den Menschen begegnen, die euch bestärken und weiterbringen. Davon bin ich überzeugt, und so habe ich meinen Weg auch erlebt. Man ist nie ganz allein, auch wenn es sich manchmal so anfühlt.
Ihr Lieben, soviel für heute. Ich hoffe, ich habe euch nicht erschlagen.
Ganz, ganz viel Kraft, Ruhe und gute Entscheidungen, Türen, die sich euch öffnen, wünsche ich euch.
Bis zum nächsten Mal
Eure Miriam
miriam rosendahl am 21. Oktober 14
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Ein paar Zitate, die mir gut tun
Nur ein ruhendes Gewässer
wird wieder klar.
aus Tibet
Entspanne dich.
Lass das Steuer los.
Trudle durch die Welt.
Sie ist so schön.
Kurt Tucholsky
Du und ich: Wir sind eins.
Ich kann dir nicht wehtun,
ohne mich zu verletzen.
Mahatma Gandhi
miriam rosendahl am 07. Juli 14
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Freundinnen und Freunde
Auf meinem Weg, meinen vielen verschiedenen Stationen habe ich sehr viele Menschen kennengelernt - und fast ebenso viele wieder aus den Augen verloren oder bewusst vorbeiziehen lassen. Ich habe an vielen verschiedenen Orten gelebt und bin durch meine wechselvolle Geschichte Menschen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Lebensgeschichten begegnet. Da waren die vielen Bekanntschaften im Studium, aus Kirche und Arbeitsfeldern, die in dem Moment wichtig wirkten - und es doch nicht waren. Es folgten immer wieder neue Menschen an neuen Orten, neuen Berufen - mit scheinbar intensiven Gespräche, die doch so wenig über mich selbst aussagten und einen wesentlichen Teil meiner Selbst verbargen. Da ich so viele Jahre meine Kindheit, meine Gefühle, mein schreckliches Leiden unter meinen heimlichen Süchten verschwiegen habe, lebte ich immer in der Angst: "Die wissen gar nicht, wer ich wirklich bin." "Wenn Sie das Schlimmste wüssten, würden sich alle, alle von mir abwenden." Ich kannte und konnte das nicht: Ehrlichkeit, Vertrauen, Loslassen, über Gefühle sprechen, keine Angst zu haben vor der millionsten Enttäuschung und davor, aufs Neue niedergemacht zu werden - sondern glauben zu können: "Dieser Mensch ist anders, als ich es bisher erlebt habe." "Diese Person wird mir nicht weh tun."
Ich wusste ja nicht einmal selbst, wer ich überhaupt bin, was ich möchte - und was nicht, wer mir gut tut - und wer nicht (und wenn diese Person hundertmal zu meiner engsten Familie gehört und ich ihr oder ihm doch eigentlich mein Leben lang dankbar und verbunden sein sollte). Ich hatte buchstäblich keine Ahnung, was in mir steckt, was mich ausmacht oder antreibt, was gut an mir ist und was vielleicht eher schwierig für andere Menschen im Umgang mit mir - all das fand ich erst durch jahrzehntelange Therapie heraus. Ich lernte ganz, ganz langsam, über mich zu reden, über meine Geschichte, meine Wünsche, meine Ziele - und erkannte ebenso vorsichtig und unendlich erstaunt, dass es tatsächlich Menschen gibt, die alles oder viel von mir wissen und mich trotzdem mögen. Genau so, wie ich bin. Mit allen meinen Stärken und Schwächen, mit meinen Schrullen und Eigenheiten, mit den Dingen, die liebenswert an mir sind - denn die gibt es, wie ich in all den Jahren des Loslassens meiner Süchte gelernt habe - ebenso wie die Züge, die vielleicht schwieriger zu verstehen sind, aber nichtsdestotrotz von ihnen akzeptiert werden: meinen Freundinnen und Freunden.
Die Menschen, die mich inzwischen seit vielen Jahren begleiten, die vieles von mir wissen, halten dennoch zu mir - was mich auch heute noch, nach vielen Jahren des gemeinsamen Weges, erstaunt, überrascht und mir immer wieder aufs Neue Tränen in die Augen schießen lässt, mir ein Gefühl von Unfassbarkeit und reich beschenkt sein vermittelt: wenn ich mich ihnen ehrlich zugemutet habe, zum Beispiel mit einer wieder mal kurzfristigen Absage eines Treffens, einem monatelangen Abtauchen, um mich dann schriftlich, nicht etwa telefonisch oder gar persönlich, wieder zu melden.
Ihnen verdanke ich einen großen Teil meiner Lebensqualität und Freude. Ihnen, euch, meinen lieben Freundinnen und Freunde, verdanke ich Dinge, die ich das Glück hatte, durch euch und mit euch - später als andere Menschen, aber immerhin - lernen zu dürfen: Vertrauen, Ehrlichkeit, Dankbarkeit, Tragfähigkeit einer Beziehung, ohne etwas leisten zu müssen, ohne zu verschweigen, zu unterdrücken, hintanzustellen, um nur ja dem anderen zu gefallen und es doch nie recht machen zu können - so, wie es mir. wie auch so manchen anderen, leider meine Eltern beigebracht haben. Sie konnten und können es bis heute nicht besser, aber das ändert nichts an den Verletzungen, die geschehen sind. Meine Freundinnen und Freunde, meine Gefährtin, sind meine Famlie geworden.
Sich selbst zu kennen, zu schätzen, möglichst gutmütig gern zu haben ist wohl der Anfang, bevor Menschen wie ich, mit schlimmen Geschichten und tausendfach schlechten Erfahrungen, lernen und eines Tages sogar glauben können, dass auch andere Menschen sie lieben können - und dies auch tun. Dass die schlimmsten Dinge, die man selbst über sich dachte, nicht verhindern, dass der eine oder andere Mensch einen trotzdem mag - und die so lange versteckten schlimmen Dinge wie Sucht, wie Missbrauch, wie nicht zu Liebe fähige Elternteile kein Grund sind, einen zu verurteilen, zu verdammen - oder zu verlassen.
Ich habe das unendliche Glück solcher Freundinnen und Freunde und danke dem Leben, das ich das erfahren darf. Ich bin bestimmt manchmal unbequem, vielleicht können sie mein ein oder anderes Verhalten nicht ganz nachvollziehen (vielleicht aber doch), aber: sie sind immer noch da. Sie haben mich nicht aufgegeben in den Jahren des Abtauchens, des Verleugnens, der Lügengeschichten und Geheimnisse. Sie haben es akzeptiert, sie riefen immer wieder an, gaben mir das Gefühl, irgendwie seltsamerweise doch liebenswert zu sein. Wenn ich schon drei Treffen abgesagt hatte, warteten sie mehrere Monate und fragten erneut, ohne mich zu drängen oder zu verurteilen, wenn ich wieder keine Kraft hatte. Meine Geheimnisse, die Essstörung und die schwere Alkoholabhängigkeit, die ich irgendwann wie einen Paukenschlag verkündete - auch das schreckte sie nicht ab. Es war kein Drama, wie so lange von mir gefürchtet, sondern ein Teil von mir - die sie als ganze Person immer noch mochten. Unfassbar.
Sie haben nicht nur meine Süchte akzeptiert, sondern - wieder im Gegensatz zu meiner leiblichen Verwandtschaft - auch meine Berufsunfähigkeitsrente, seit ich 36 bin. Letzteres wiegt vielleicht fast noch mehr in einer Gesellschaft, in der die Politiker im Wahlkampf nicht oft genug betonen können: "Leistung muss sich wieder lohnen!" und "Nur wer arbeitet, soll belohnt werden!". Keiner meiner Freundinnen und Freunde, außer meiner Gefährtin mit ähnlich belastender Lebensgeschichte, ist bisjetzt diesen Weg gegangen. Alle, auch wenn sie zum Teil selbst zu kämpfen haben mit großer Sensibilität und gesundheitlichen Alarmsignalen, haben immer wieder versucht, beruflich zu funktionieren, möglichst nicht aufzufallen in unserer Leistungsgesellschaft, trotz Strauchelns immer wieder Fuß zu fassen in unserem Arbeitsleben und wie gewünscht vorzusorgen für das Alter und die abgesicherte, strahlende Zukunft.
Ich bewundere sie dafür, für ihre Kraftanstrengungen - wo meine Kraft für immer verbraucht ist durch jahrzehntelangen körperlichen Missbrauch und mein Leben auf der Beschleunigungsspur. Ich wünsche ihnen und jedem Menschen, was ich - trotz finanzieller Einbußen und ungewisser Zukunft - leben darf: Zufriedenheit und (einigermaßen, ich will meine Gelassenheit nicht übertreiben) Ausgesöhntsein mit dem eigenen Leben. Ich wünsche jedem und jeder Einzelnen, dass Raum bleibt, einen Teil seiner geheimen Wünsche, Ziele, Ideen zu leben, und nicht im gesellschaftlich scheinbar normalen Arbeitsalltag einfach aufzugeben.
Auch wenn sich nicht jeder und jede trauen mag, eine winzige Rente zu beziehen und in vielleicht ungesicherter Zukunft zuleben, bin ich doch fest überzeugt und hoffe es für jeden und jede, die sich abrackern im Beruf, dass es möglich ist, an kleinen Wünschen, Zielen, Träumen festzuhalten. Ich bin ganz sicher und mache die Erfahrung immer wieder: Es ist viel mehr möglich, als man denkt. Und: Es läuft so viel besser, als man sein Leben lang gefürchtet hat. Und ganz anders, als man denkt oder bis ins Kleinste versucht zu planen und mitzubestimmen, kommt die Zukunft sowieso.
Ihr Lieben, ich danke euch fürs geduldige Zuhören. Ich wünsche euch ebensolche Freundinnen und Freunde, wie sie mir geschenkt wurden: Menschen, die euch genau so nehmen und mögen, wie ihr seid. Ohne wenn und aber.
Habt ein gutes Leben und den Mut, eure Träume - wenigstens ein bisschen - umzusetzen: hier und jetzt, und nicht erst in der Zukunft, die ihr nicht in der Hand habt.
Danke.
Eure Miriam
miriam rosendahl am 16. Juni 14
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